Im allgemeinen Sprachgebraucht ist es häufig abwertend gemeint, wenn jemand als Narzisst*in bezeichnet wird. Darunter versteht man häufig einen Menschen, der übermäßig stark nach Anerkennung strebt, selbstverliebt ist und dem die Bedürfnisse anderer egal sind. Gleichzeitig wird aktuell gesellschaftlich viel über Narzissmus diskutiert, ohne dass der Begriff ausreichend definiert und genauer eingeordnet wird. Dadurch wird der narzisstische Persönlichkeitsstil oft auch mit (Vor-)Urteilen beladen. Auch wissenschaftlich ist der Begriff Narzissmus nicht unumstritten bzw. es existieren unterschiedliche Konzepte dazu.
In der Psychologie unterscheidet man zwischen Narzissmus und einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Unter Narzissmus versteht man zunächst neutral ein komplexes Persönlichkeitsmerkmal, das – wenn bestimmte Eigenschaften zusammenkommen – einen Persönlichkeitsstil bildet. Ein Persönlichkeitsstil ist nicht problematisch; erst wenn der Narzissmus stark ausgeprägt ist und für die Betroffenen und ihre Umwelt zu Leid führt, spricht man von einer Persönlichkeitsstörung. Die Grenzen zwischen Persönlichkeitsstil und -störung sind tatsächlich fließend. Als Persönlichkeitsmerkmal tragen wir alle narzisstische Anteile in uns, die sich beispielsweise in Selbstbewusstsein oder in einer Anspruchs- und Leistungsorientierung zeigen können.
Kriterien eines narzisstischen Persönlichkeitsstils
Woran erkenne ich nun, ob ich selbst oder Menschen in meinem Umfeld narzisstische Tendenzen haben? Was sind Kriterien für einen narzisstischen Charakter?
– Ein übertriebenes, unbegründetes Gefühl der eigenen Bedeutung und Talente (Grandiosität). Einerseits besitzen Narzisst*innen ein übersteigertes Selbstwertgefühl, andererseits werden Gefühle wie Scham, Schuld, Angst, Hilflosigkeit und Selbstabwertung (mangelnder Selbstwert) durch Größenideen, Perfektionismus, Abwertung anderer Menschen, bis hin zu Wut und Aggressivität ausgeglichen.
– Menschen mit narzisstischer Persönlichkeit sind oft stark eingenommen von Phantasien grenzenlosen Erfolgs, Einfluss, Macht, Intelligenz, Schönheit oder idealer Liebe (Allmachtphantasien bzw. Idealisierung).
– Selbstidealisierung: Betroffene glauben von sich „besonders“ und einzigartig zu sein und nur von anderen besonderen oder angesehenen Personen verstanden zu werden. Umgekehrt fühlen sie sich schnell kritisiert bzw. durch Kritik persönlich angegriffen. Misserfolge können sie in schwere Krisen stürzen.
– Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeit haben häufig ein übergroßes Bedürfnis nach Anerkennung und Bewunderung. Anerkennung zu bekommen ist ein Hauptantrieb für ihr Handeln und ihre Entscheidungen.
– Ein erhöhtes Anspruchs- und Leistungsdenken. Gemeint sind damit übertriebene Erwartungen an eine bevorzugte Behandlung oder der Anspruch, dass automatisch auf die eigenen Erwartungen eingegangen wird.
– In zwischenmenschlichen Beziehungen verhalten sich Narzisst*innen oft ausbeuterisch oder sogar manipulativ, das heißt, sie nutzen andere aus, um die eigenen Ziele zu erreichen, und zeigen dabei wenig Verständnis und Einfühlung.
– Die Betroffenen zeigen oft einen Mangel an Empathie, das heißt sie sind nicht willens bzw. nicht in der Lage, die Gefühle und Bedürfnisse anderer zu erkennen oder sich mit ihnen zu identifizieren. Ihnen fehlt die emotionale Empathie und das Schwingungsvermögen, um sich in andere hineinzuversetzen.
– Neid (und das Vergleichen mit anderen) ist ebenfalls ein Kriterium für den narzisstischen Persönlichkeitsstil. Es umfasst sowohl den Neid auf andere sowie den Glauben, dass andere sie beneiden.
– Betroffene zeigen meist arrogante, überhebliche Verhaltensweisen oder Haltungen. Dieses Kriterium schließt jedoch auch die Verletzlichkeit von Narzisst*innen nicht aus. Vielmehr gibt es häufig starke Schwankungen zwischen diesen beiden Seiten.
Für eine narzisstische Persönlichkeitsstörung nach dem Diagnosemanual DSM-5 müssen mindestens fünf dieser Kriterien erfüllt sein.
Spannend sind besonders die Schwankungen (Ambivalenz) zwischen den Extremen: Idealisierung und Entwertung, Gefühl der Grandiosität und mangelndes Selbstwertgefühl, Arroganz und Verletzlichkeit. Im Hintergrund ist oft eine Unsicherheit über die eigene Identität zu finden (Wer bin ich eigentlich?). Zugleich können Selbstzweifel und das Gefühl nicht zu genügen, das viele Narzisst*innen kennen, auch ein großer Motor für Kreativität und herausragende Leistungen in vielen Bereichen sein…
Beziehungen mit Narzisst*innen können ebenso anregend wie herausfordernd sein. Sie können faszinieren und treten oft originell, charismatisch oder humorvoll auf. Oft entwickeln sie große Gefühle – können sich aber im nächsten Moment ihrer Gefühle und der Beziehung wieder unsicher, das heißt ambivalent sein. Häufig ist in Beziehungen mit ihnen wichtig, eine gute und flexible Abgrenzung zu entwickeln.
Eine therapeutische Behandlung bei narzisstischer Persönlichkeitsstörung ist möglich. Voraussetzung ist, wie auch bei anderen psychischen Störungen, dass die Betroffenen selbst die Bereitschaft zur Therapie mitbringen. Wenn Menschen mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung sich Unterstützung suchen, können auch andere Gründe, wie Beziehungskrisen, Gefühle von Scham und Versagen oder Depressionen, Anlass dafür sein. Meist benötigt die therapeutische Arbeit mit Persönlichkeitsstörungen einen sehr langen Prozess, der die unterschiedlichen Aspekte mit einbezieht.