Ängste, Reizbarkeit, Wut oder Traurigkeit – wenn wir negativ empfundene Gefühle bei uns bemerken, reagieren wir darauf meistens wie auf unliebsame Gäste, die wir schnellstens wieder loswerden möchten. Unbewusst haben wir gelernt, dass es ungehörig ist, Aggressionen zu zeigen, und dass Traurigkeit zu einer depressiven Stimmung führen kann. Wir wollen Angst, Wut, Trauer etc. nicht ausgeliefert sein und versuchen deshalb, sie zu unterdrücken und möglichst nicht zu fühlen.
Häufig befürchten wir, dass die Gefühle intensiver werden und nicht mehr weggehen. Also dass wir wie in einem Meer der Traurigkeit versinken oder dass unsere Aggressionen anhalten und für uns und andere zerstörerisch wirken. Dagegen sprechen jedoch neuere Forschungsergebnisse, wie die der Neurologin Jill B. Taylor, die besagen, dass die meisten starken Empfindungen unseres Gehirns nach gut 90 Sekunden so weit abklingen, dass wir wieder ‘normal’ denken und handeln können.
Es bedeutet, dass die meisten Gefühle von selbst wieder verschwinden können – wenn es uns gelingt, sie zeitweise anzunehmen und auch wieder loszulassen. Was jedoch meistens passiert, ist, dass wir gegen die unerwünschten Gefühle ankämpfen, Widerstand leisten und Angst vor ihnen entwickeln. Das führt im Gegenzug nur dazu, dass auch die Gefühle mehr Widerstand leisten und dass wir länger an ihnen festhalten und uns mehr in sie verstricken, als wir eigentlich wollen.
Wie kann es gelingen, auch unangenehme Gefühle anzunehmen? Den wirksamsten Weg, den ich kenne, ist, die Gefühle achtsam als eine körperliche Empfindung wahrzunehmen. Das kann sich erstmal kontraintuitiv anfühlen – wenn sich etwas unangenehm anfühlt, ist unsere spontane Reaktion, es wegzudrücken und es nicht haben zu wollen, statt sich dem aufmerksam und ohne zu werten zuzuwenden. Aber genau das meint die achtsame Wahrnehmung: sich die Zeit zu nehmen, sich dem Gefühl zuzuwenden und es im Körper zu spüren.
Wie wendet man sich einem unangenehmen Gefühl im Körper zu?
Wir können beobachten, wo im Körper das Gefühl am stärksten zu spüren ist: Fühlt es sich eher an wie ein Druck im Magen, ein Kloß im Hals oder wie eine Traurigkeit hinter den Augen? Wie würden wir es beschreiben, ist es eher groß oder klein, hart oder weich, fest oder fließend? Welche Temperatur hat es? Ist es hell oder dunkel oder hat es eine bestimmte Farbe? Es geht darum, in Kontakt damit zu sein, es interessiert und wohlwollend wahrzunehmen.
Geben Sie dem Gefühl und sich selbst eine Zeit lang ihre volle Aufmerksamkeit – anders als im Alltag, wo wir schnell über uns selbst hinweggehen. Es muss dabei nichts passieren, es gibt kein Ziel zu erreichen, außer mit Ihnen und Ihrem Inneren in Kontakt zu sein. Vielleicht entsteht ein Bild, vielleicht kommen auch Botschaften, die Sie sonst überhören. „Ich kann nicht mehr.“, „Das finde ich blöd.“, „Das hat mich verletzt“… oder ganz andere. Hören Sie einfach freundlich und aufmerksam dem zu, was immer auftaucht.
Bleiben Sie einfach eine Weile mit Ihrer Aufmerksamkeit dort und verweilen Sie einfach mit dem was ist. Sie können zwischendurch immer mal wieder nachspüren, ob sich etwas verändert, wenn Sie Ihre Gefühle körperlich wahrnehmen. Sich so Ihren Gefühlen zuzuwenden bedeutet nicht, sich darin zu verlieren. Vielmehr haben Ihre Gefühle eine Chance, sich zu wandeln und abzufließen, wenn sie aufmerksam wahrgenommen werden.
Sie können sich das Gefühl auch vorstellen wie ein kleines Kind, dem Sie sich hier und jetzt liebevoll zuwenden. Wie würden Sie mit einem Kind sprechen, das sich momentan so fühlt? Welches Mitgefühl und welchen Trost würden Sie ihm schenken? Gibt es eine Geste, die jetzt guttun würde? Vielleicht möchten Sie ihm mitteilen, dass Sie da sind und ihm zuhören; vielleicht möchten Sie ihm auch einfach eine Weile Gesellschaft leisten.
Wenn Sie sich Ihren Gefühlen so achtsam zuwenden, entsteht eine Grundhaltung, die fragt: Wie kann ich mich selbst in diesem Moment beruhigen und trösten? Selbstmitgefühl ist das Gegenteil davon, sich selbst innerlich Druck zu machen oder etwas an Ihnen abzulehnen. Stattdessen nehmen Sie ihre Gefühle und sich selbst liebevoll an.
Zuletzt noch ein Tipp: Wenn die Gefühle besonders intensiv und schwer auszuhalten sind, gehen Sie langsam vor. Nehmen Sie den Widerstand wahr und drängen Sie sich nicht, ihre Grenzen zu überschreiten. Oft hilft es, sich zunächst am äußeren Rand der Empfindung aufzuhalten und erst weiterzugehen, wenn es sich sicher und erträglich anfühlt.
Ich wünsche Ihnen viele Freude bei der Erforschung Ihrer Gefühle und einen liebevollen, mitfühlenden Umgang mit sich!