Jeder kennt solche Situationen: Eine Bemerkung oder das Verhalten eines anderen Menschen hat uns verletzt und wir reagieren innerlich mit überschäumender Wut. Wir erleben einen Verlust oder erinnern uns an ein schmerzhaftes Erlebnis und eine große Traurigkeit steigt in uns auf. Die Intensität der Gefühle kann uns überraschen und am liebsten würden wir in diesem Moment einfach aussteigen und die Gefühle links liegen lassen – was uns aber häufig nicht gelingt.
Oft entstehen dann auch Gedanken wie: „Ich darf auf keinen Fall so wütend (traurig, ängstlich etc.) sein!“, „Ich muss stark sein und keiner darf mir etwas anmerken.“ und sogar „Ich muss andere vor meinen intensiven Gefühlen schützen.“ Uns diese Gefühle zu erlauben, scheint in diesen Augenblicken jenseits unserer Vorstellungskraft.
In diesem Blog-Artikel möchte ich eine Möglichkeit beschreiben, wie wir in mehreren Schritten auf solche intensiven Gefühle reagieren können – ohne uns von ihnen beherrschen zu lassen. Statt unsere Gefühle mit allen Mitteln zu bekämpfen (und sie damit oft nur noch zu verstärken) oder uns von ihnen abzuschneiden, können wir sie wahrnehmen und ihnen mit Interesse und Mitgefühl begegnen; wir können einen erwachsenen Umgang mit ihnen finden und können vielleicht sogar ihren Wert/ihre Botschaft für uns erkennen.
Im Folgenden beschreibe ich einen Weg, durch den wir uns unserer Gefühle bewusstwerden können, sie eine Zeit lang da sein dürfen – und wir uns wieder neu entscheiden können, wie wir mit ihnen und der Situation insgesamt umgehen:
1. Innehalten und wahrnehmen, was gerade da ist
Der erste Schritt besteht darin, nicht in unserem üblichen Modus und Verhalten einfach weiterzumachen, sondern die Situation kurz zu unterbrechen und zu bemerken, was gerade passiert und wie wir uns fühlen. Im besten Fall verurteilen wir uns nicht gleich dafür, sondern nehmen unsere Stimmung und unser Gefühl erst einmal nur wahr, im Sinne von: „Aha, ich bin in diesem Moment sehr wütend und aufgebracht (traurig, ängstlich etc.)“ Durch diese aufmerksame Haltung ändern wir bereits etwas an dem typischen Ablauf in der Situation.
2. Inneren Abstand schaffen
Ein kleiner weiterer Schritt ist, innerlich etwas Abstand zu gewinnen, indem man zum Beispiel ein paar Mal ein- und ausatmet, bewusst den eigenen Körper wahrnimmt oder sich auf seine Füße und den Kontakt zum Boden konzentriert. Die Gefühle sind da, aber gleichzeitig sind wir weiterhin in Kontakt mit uns und mit der Welt; wir schaffen uns eine Basis. In manchen Situationen bedeutet Abstand auch, kurz einmal den Raum zu verlassen und ein paar Schritte zu gehen, um ein klein wenig entspannen zu können.
3. Das Gefühl im Körper lokalisieren
Haben wir etwas Abstand gewonnen, können wir unsere Aufmerksamkeit weiter auf unseren Körper richten und unsere Gefühle erforschen: Wo im Körper nehme ich meine Wut (Trauer etc.) gerade wahr? Gibt es eine Stelle im Bauch, im Nacken, an den Schultern, Beinen oder an einem anderen Ort? Wie groß oder klein ist der Bereich? Welche Empfindungen sind da (z.B. flattrig, brodelnd, schwer)? Indem wir das Gefühl im Körper lokalisieren und es genauer beschreiben, nähern wir uns ihm an – und nehmen es gleichzeitig mehr an. Man könnte sagen, es fühlt sich wahr- und ernstgenommen.
4. Erlauben und Anerkennen
Wenn wir es schaffen, das jeweilige Gefühl einfach in uns da sein zu lassen und uns ihm freundlich und aufmerksam zuzuwenden, vollziehen sich oft verblüffende Wandlungen. Es bedeutet, sich die Zeit zu nehmen, eine Weile mit dem Gefühl zu sein; in etwa als würden wir ihm eine Zeit lang Gesellschaft leisten, ohne viel zu tun. „Darf es sein, dass ich gerade … fühle?“ Wichtig bleibt, dass wir nicht anfangen, es zu bewerten oder etwas verändern zu wollen, sondern dass wir eine anerkennende, mitfühlende und vielleicht etwas neugierige Haltung einnehmen.
Das kann besonders anfangs eher schwierig und ungewohnt erscheinen; dann genügt es auch, das Gefühl mit einem „Hallo“ zu begrüßen und ihm damit zu signalisieren, dass es willkommen ist. Hilfreich ist in jedem Fall, dabei weiter zu atmen. ;-)
5. Im Dialog mit dem Gefühl
Wenn Sie weitergehen wollen, können Sie auch einen Dialog mit dem Gefühl beginnen und erfragen, was in diesem Gefühl unsere Aufmerksamkeit haben möchte. Auch dafür ist es wichtig, das Gefühl weiter in Ihrem Körper lokalisieren zu können. Wie geht es diesem Gefühl momentan? Gibt es etwas, das es uns mitteilen möchte? Worauf bezieht es sich bzw. was macht es so wütend, traurig u.a.? Was braucht das Gefühl momentan? Lassen Sie sich ruhig von Ihrer Intuition leiten, wenn Sie Fragen stellen, und lassen Sie sich Zeit, die Antworten und Botschaften, die in Ihnen entstehen, zu hören.
6. Zurück zu mir selbst
Nachdem Sie so etwas Zeit mit dem Gefühl verbracht haben und ihm zugehört haben, gibt es vielleicht noch etwas, das Sie für einen guten Abschluss benötigen. Das kann beispielsweise sein, sich noch einmal anerkennend dem Gefühl zuzuwenden: „Ich kann verstehen, dass du so wütend (traurig, ängstlich etc.) bist.“, „Du bist okay.“ Sie können wahrnehmen, ob sich etwas verändert hat und sich dann freundlich von dem Gefühl verabschieden. Möglich ist auch, zu vereinbaren, sich dem Gefühl zu einem anderen Zeitpunkt erneut zuzuwenden. Nehmen Sie sich anschließend die Zeit, gut wieder in der Realität anzukommen, ein paar tiefe Atemzüge zu nehmen oder sich etwas zu bewegen.
Es braucht ein bisschen Übung, um mit diesen Schritten und mit wirklicher Neugierde auf die eigenen Gefühle reagieren zu können. Machen Sie sich die Schritte erst einmal bewusst und probieren Sie sie dann in einer nur einfachen bis mittelschwierigen Situation aus. Wenn Sie Ihren Gefühlen mit dieser Offenheit und bedingungslosen Akzeptanz begegnen, wird möglich, sich von ihnen nicht mehr überwältigen zu lassen, sondern die in ihnen steckende Kraft und Lebendigkeit anzunehmen.
Ich wünsche Ihnen gute Erfahrungen und Entdeckungen im Umgang mit Ihren Gefühlen!