Das Wertequadrat ist ein Modell, durch das sich mehr innere Balance herstellen lässt – sei es individuell, für uns selbst, oder in unseren sozialen Beziehungen. Es hilft, unsere persönlichen Werte zu reflektieren und zu erweitern, wenn wir sie zu einseitig leben. In Konflikten können wir mehr Verständnis für die Position des anderen entwickeln und finden leichter gemeinsam neue Handlungsschritte.
Das Wertequadrat basiert auf der Grundannahme, dass jeder unserer Werte oder Eigenschaften einen komplementären, das bedeutet gegensätzlichen Wert braucht, um ausbalanciert zu sein. In uns sind immer schon beide Werte bzw. Eigenschaften vorhanden, in der Regel tendieren wir jedoch zu einer Seite mehr. Zum Beispiel sind wir vielleicht mehr empathisch als selbstfürsorglich oder Kreativität/Freiheit ist für uns ein wichtigerer Wert als Struktur/Ordnung.
Problematisch kann es werden, wenn wir zu sehr zu einer Seite tendieren oder uns in einen Wert hineinsteigern. Wenn wir beispielsweise immer wieder empathisch auf die Bedürfnisse anderer Personen reagieren und uns selbst darüber vergessen oder gar nicht mehr wahrnehmen, was wir eigentlich brauchen – vielleicht auch, weil wir gelernt haben, eine Eigenschaft wie „egoistisch sein“ abzulehnen.
Das Wertequadrat möchte das Spannungsfeld zwischen diesen gegensätzlichen Seiten ausgleichen und zwischen den Polen vermitteln, statt eine Seite zu grundsätzlich abzulehnen.
Wie verwende ich das Wertequadrat?
Wenn wir eine Seite oder ein Verhalten von uns nicht mögen oder sie uns immer wieder im Weg stehen, können wir uns die Frage stellen, welchen Wert oder welche Eigenschaft wir damit verbinden.
Die darauffolgenden Schritte des Wertequadrats möchte ich an dem Beispiel „Perfektionismus“ veranschaulichen. Bildlich können wir uns das Modell als ein Quadrat aus vier Feldern vorstellen, von denen jeweils zwei ein Paar bilden und nebeneinander angeordnet sind.
Diejenige negative Eigenschaft, die wir an uns nicht mögen und bei der es uns schwerfällt, sie zu verändern („Perfektionismus“), würde im Wertequadrat im Feld unten links stehen. (1)
Im nächsten Schritt können wir uns fragen, was der positive Kern dieser Eigenschaft ist, und kommen dabei vielleicht auf die Eigenschaft (den Wert) „Genauigkeit“ oder „Leistungsbereitschaft“, der uns sehr wichtig sind. Diese Eigenschaft wird im Wertequadrat links oben eingetragen. (2) Es lässt bereits erkennen, dass die negative Eigenschaft für uns einen durchaus guten und erstrebenswerten Anteil hat.
Anschließend können wir uns fragen, was der positive Gegenwert zu „Leistungsbereitschaft“ ist. Das könnte beispielsweise die Eigenschaft „Lockerheit“ sein, gemeint als „die Dinge locker angehen“, eine entspannte Haltung annehmen. Dieser Wert wird im Feld rechts oben des Wertequadrats eingetragen. (3) Dieses Feld verdeutlicht die Eigenschaft, die uns am wahrscheinlichsten fehlt, wenn wir sehr in einer perfektionistischen Haltung gefangen sind. Nach dem Modell ist dies auch die Qualität, die wir mehr kultivieren sollten, wenn wir nach Veränderung streben.
Darunter, im rechten unteren Feld kann noch eingetragen werden, was das Extrem dieser Eigenschaft sein kann, zum Beispiel „Gleichgültigkeit“ als Extrem zu „Lockerheit“. (4)
Das Wertequadrat veranschaulicht so zum einen, welche Werte-Paare es gibt (Leistungsbereitschaft – Lockerheit) und weist darauf hin, welcher gegensätzliche Wert gestärkt werden muss, damit ein Gleichgewicht entsteht. Den meisten Menschen fällt es übrigens leichter, sich zu einem neuen positiven Wert hinzuentwickeln, als den negativen Wert/die negative Eigenschaft zu ändern bzw. zu verringern! Zum anderen stellt das Modell die Extreme dar (Perfektionismus – Gleichgültigkeit), die dann entstehen, wenn wir die positiven Werte jeweils besonders stark ausleben.
Um bei dem Beispiel zu bleiben: Wenn ich unter meinem Perfektionismus leide, ist es hilfreich, mich zu fragen, wie ich etwas mehr Lockerheit in mein Leben bringen kann – statt die perfektionistische Seite um jeden Preis abschaffen zu wollen.
Wie hilft das Wertequadrat bei Konflikten in Beziehungen?
In Konflikten mit anderen Menschen kann das Wertequadrat ebenfalls sehr nützlich sein. Wir können uns zum Beispiel fragen:
– Welche Position vertrete ich gerade? Gehe ich davon aus, dass der Wert, den ich vertrete, der einzig „wahre“ und positive ist?
– Könnte die Position des*der anderen Person nicht auch eine gute Ergänzung zu meiner Position sein? Eventuell macht sie mich ja auch darauf aufmerksam, welche Eigenschaft bei mir zu gering ausgeprägt ist oder welche ich ablehne.
– Werfe ich meinem*er Partner*in, Freund*in etc. eventuell gerade die Extremeigenschaft vor? Das passiert sehr häufig in Konflikten…
– Gibt es einen guten Kern bei der Eigenschaft des*der anderen Person?
Diese Fragen können das Verständnis für die Position des*der anderen vertiefen. Die Absicht dahinter ist, in Streitgesprächen weniger zu polarisieren und abzuwerten, sondern im besten Fall den Standpunkt des anderen wertzuschätzen. Dann kann gemeinsam nach einem Weg gesucht werden, um beide Positionen mehr ins Gleichgewicht zu bringen.
Von wem stammt das Wertequadrat?
Zuletzt noch ein Hinweis darauf, woher das Wertequadrat stammt. Der Grundgedanke geht auf die Ethik des Aristoteles zurück, der die Tugend als die Balance zwischen zwei Extremen definiert hat. Entwickelt hat das Modell der Philosoph Nicolai Hartmann; und heute ist es insbesondere bekannt durch den Kommunikationswissenschaftler und Psychologen Friedemann Schulz von Thun, nach dem es als Werkzeug für die persönliche Weiterentwicklung und Kommunikationsanalyse verwendet wird.
Ich hoffe, du hast durch den Beitrag einen ersten Eindruck vom Wertequadrat erhalten und wünsche dir viel Freude dabei, deine Werte zu erkennen und ins Gleichgewicht zu bringen!