Du darfst nicht alles glauben, was du denkst – diese Haltung könnte auch hinter der Methode des „sokratischen Dialogs“ stehen, wie sie in Therapie und Coaching verwendet wird. Unsere Gedanken und Überzeugungen prägen unsere Wahrnehmung der Welt und fühlen sich für uns realistisch an – dabei sind es oft nur subjektive Sichtweisen und Urteile, die keineswegs „wahr“ sind. „Ein Leben ohne Konflikte ist ein glückliches Leben. „, „Diese Prüfung bestehe ich sicher nicht.“, „Jede Frau wünscht sich, eine Familie zu gründen“. „Männer haben die Aufgabe, die Wünsche ihrer Partnerinnen zu erfüllen.“ …
Einerseits helfen uns Überzeugungen, damit wir nicht jede Situation neu bewerten und uns für ein neues Verhalten entscheiden müssen. Gleichzeitig können uns gewohnte Sichtweisen daran hindern, neue positive Erfahrungen zu machen. Der Sokratische Dialog hilft uns, festgefahrene Überzeugungen und Glaubenssätze auf die Probe zu stellen und zu hinterfragen.
Der griechische Philosoph Sokrates (469-399 v. Chr.) nahm in Gesprächen häufig eine Position des Nichtwissens ein, d.h. er bewertete nicht und wollte seine Gesprächspartner auch nicht von seinen Ansichten überzeugen. Stattdessen wollte er andere darin unterstützen, ihre Gedanken zu überprüfen und einen eigenen Erkenntnisprozess in Gang zu setzen. Seine Gesprächsführung wurde vor allem durch Fragen charakterisiert („Ist es nicht so, dass…“ oder „Meinst du nicht, dass…“), die eine neue, ungewohnte Position aufzeigten. Damit regte er sein Gegenüber an, eine neue Haltung/Position auszuprobieren oder anzunehmen.
Bei der heutigen Verwendung der Methode werden meist zwei gegensätzliche Thesen diskutiert. Dies kann im Gespräch, während einer therapeutischen Sitzung oder im Coaching geschehen, oder du nimmst dir zuhause die Zeit, zwei Kurzvorträge zu verfassen, in denen du zunächst Argumente für die eine und dann für die andere Seite findest – ohne innerlich zu bewerten, sondern mit dem Ziel, beide Male zu überzeugen.
Wie wird der sokratische Dialog verwendet?
1. Wähle einen Glaubenssatz aus, der dich einschränkt oder andere negative Konsequenzen für dich hat,
z.B. „Ich kann mich für die neue Stelle erst bewerben, wenn ich alle erforderlichen Qualifikationen besitze.“ oder
„Eine gute Tochter (Freundin/Partnerin/Mutter etc.) ist für die Bedürfnisse ihrer Eltern (Freunde/des Partners/ihrer Kinder) verantwortlich.“
2. Formuliere anschließend einen gegensätzlichen Glaubenssatz,
z.B. „Ich kann mich für die neue Stelle auch bewerben, wenn ich (noch) nicht alle erforderlichen Qualifikationen habe.“ oder
„Eine gute Tochter (Freundin/Partnerin/Mutter etc.) kümmert sich um ihre eigenen Bedürfnisse und kann sich gut abgrenzen.“
3. Verfasse für beide Standpunkte einen jeweils etwa gleichlangen Kurzvortrag (ca. 1-1,5 Din A4 Seiten bzw. 3-5 Min Redezeit).
Die Zuhörer*innen sollen nicht erkennen können, welchen Standpunkt du selbst vertrittst, sondern du setzt dich gleichermaßen intensiv mit beiden Positionen auseinander. Bereits das Schreiben und die Beschäftigung mit den gegensätzlichen Positionen kann unsere Sicht der Dinge erweitern und starre Überzeugungen lockern – und darf auch Spaß machen! Auch wenn es zunächst paradox erscheint, gibt es immer auch Argumente für die Gegenseite, die wir nur oft übersehen, weil wir Beweise für unsere bekannte Weltsicht sammeln.
Ein Gewinn aus dem sokratischen Dialog kann sein zu erkennen, dass es bei den Überzeugungen kein „richtig“ oder „falsch“ gibt, sondern wir uns irgendwann unbewusst für eine Position entschieden haben. Beide Standpunkte sind im Grunde gleichwertig und blockierende Glaubenssätze entsprechen oft mehr unseren (meist irrationalen) Ängsten und Befürchtungen. Indem wir Argumente und Beweise für die andere Seite sammeln, ergibt sich ein vollständigeres Bild.
Wir erhalten die Möglichkeit, unsere Wahrnehmung zu erweitern – und uns für einen anderen Standpunkt zu entscheiden, der uns besser unterstützt. In jedem Fall sind wir uns bewusster geworden über unsere Glaubenssätze und wurden vielleicht überrascht und ermutigt, unsere Denkmuster zu verändern.
Viel Freude beim Ausprobieren der sokratischen Haltung!